Als ihn der heilige Papst Johannes Paul II. am 26. November 1994 in das Kardinalskollegium aufnahm, war der 49-jährige Vinko Puljić der jüngste Kardinal. Heute ist Vinko Kardinal Puljić Erzbischof von Vrhbosna (Sarajevo). Das Erzbistum Sarajevo hat seine Ursprünge im 7. Jahrhundert. 1881 wurde es wieder als Bischofssitz etabliert. Das Erzbistum liegt im Osten des Landes und grenzt im Norden an Kroatien, im Osten an Serbien und im Süden an Montenegro. Das Bistum umfasst Landesteile der Föderation BiH und der Serbischen Republik. Erzbischof Puljić ist nicht nur Hirte seiner Diözese, sondern als Kardinal auch Mitglied der Kongregation für die Evangelisierung der Völker und des Päpstlichen Rates für den Interreligiösen Dialog. Im Dezember 2020 überstand der mittlerweile 75-Jährige eine schwere COVID-19-Erkrankung. „Maria 1.0“ hat mit Kardinal Puljić gesprochen. Das Interview wurde von Thommy M. Schott vermittelt und von Dinka Mihic übersetzt. Die Fragen stellt Clara Steinbrecher, Leiterin der Initiative Maria 1.0.
Maria 1.0: Eminenz, im Dezember 2020 mussten Sie sich aufgrund einer
Corona-Infektion im Krankenhaus behandeln lassen. Wie geht es Ihnen
heute?
Kardinal Puljić: Ich bin Gott dankbar, dass ich pünktlich ins Krankenhaus gegangen
bin. Ich bin auf sehr engagierte Ärzte und medizinisches Personal
gestoßen. Ich habe Corona zwar gut überstanden, trage aber immer
noch die Folgen. Ich habe das medizinische Personal bewundert, das
trotz der starken Belastung immer geduldig mit allen Patienten war.
Ich bin nicht mehr derselbe wie vor Corona, aber ich bin Gott
dankbar, dass ich meine Pflichten regelmäßig erfüllen kann.
Maria 1.0: Die katholischen Kroaten sind die kleinste der drei
staatstragenden Ethnien Ihrer Heimat. Wie würden Sie die Situation
der Katholiken Bosnien-Herzegowinas ein Vierteljahrhundert nach
Kriegsende beschreiben?
Kardinal Puljić: Das Dayton-Abkommen hat zwar den Krieg beendet, aber keinen gerechten
Frieden geschaffen. Dayton teilt Bosnien und Herzegowina in zwei
Teile. In einem Teil, der Republika Srpska (Serbische Republik, Anm.
d. Red.), ist die ethnische Säuberung legalisiert und es gibt dort
fast keine katholischen Kroaten. Im anderen Teil (Föderation Bosnien
und Herzegowina, Anm. d. Red.), in dem Kroaten und Bosniaken leben,
ist eine Mehrheit der Bosniaken über die Kroaten entstanden. Die
Menschen sind unsicher und frustriert. Selbst diejenigen, welche den
Krieg ertragen haben, verlassen jetzt das Land. Leider wurde die
Gleichberechtigung aller drei konstituierenden Völker nicht
etabliert und es gelten nicht die gleichen Rechte auf allen Gebieten.
Maria 1.0: Besucht man in Deutschland die heilige Messe einer
kroatischen Gemeinde, fällt auf, dass die Kirchen voll und nahezu
alle Generationen unter den Gläubigen vertreten sind. Ist die
katholische Kirche in Ihrem Land vitaler, als sie es beispielsweise
in Deutschland ist?
Kardinal Puljić: Im Laufe der Geschichte haben unsere Katholiken im Glauben Halt und
eine Quelle der Stärke gefunden. Wenn sie jetzt das Land ihrer
Vorfahren verlassen, tragen sie den Glauben ihrer Väter mit sich, in
dem sie aufgewachsen sind und für den sie besonders in der
kommunistischen Ära sehr viel ertragen haben. Die ältere Generation
wird diesen Glauben leben, aber die Jüngeren werden sich schnell an die
Umgebung anpassen, in die sie gekommen sind, weil sie dort zur Schule
gehen und die öffentliche Meinung ihre Weltanschauung beeinflusst.
Maria 1.0: Die Jungfrau Maria, so sagen viele, hat Bosnien durch ihre Gegenwart in Međugorje
eine große Gnade erwiesen. Was bedeutet Ihnen ganz persönlich
dieser Wallfahrtsort?
Kardinal Puljić: Im Laufe der Geschichte war unser Volk besonders fromm gegenüber der
Heiligen Jungfrau Maria. Ich glaube, dass es nicht auch nur ein Haus
ohne ein Bild von Unserer Lieben Frau an der Wand gibt. Wir haben
mehrere Orte, die im Laufe der Geschichte zu Heiligtümern der
Muttergottes wurden. Die Menschen tun dort gern Buße und erfüllen
ihre Gelübde. Medjugorje ist vielleicht der größte Beichtstuhl in
der EU, da viele kommen, um zu Unserer Lieben Frau zu beten, zu
beichten und ein persönliches Gelübde abzulegen. Dort finden sie
durch den Glauben Trost und die Fähigkeit ihr Kreuz im Leben zu
tragen.
Maria 1.0: Die katholische Kirche in Westeuropa befindet sich in einer großen
Krise. Einige Sakramente, wie beispielsweise das Bußsakrament,
liegen regelrecht am Boden. Insbesondere in Deutschland stehen sich
sogenannte Reformer und lehramtstreue Katholiken gegenüber. Wie
bewerten Sie als Kardinal der Weltkirche die aktuellen Entwicklungen?
Kardinal Puljić: Der auferstandene Christus ist das Zentrum unseres Glaubens. Der
heilige Paulus rief uns dazu auf, uns Christus anzupassen. Leider
wurden in diesem säkularisierten Geist die Dinge verdreht.
Wir fordern von Christus, sich uns anzupassen. Es gibt ein Sprichwort
bei uns: Wenn du nicht so handelst wie du denkst, beginnst du zu
denken wie du handelst. Genau dies geschieht im Geiste des
Relativismus und Säkularismus. Wir erinnern uns noch sehr gut, wie
die Kommunisten forderten, dass wir uns von der einen heiligen
katholischen und apostolischen Kirche trennen. Einen hohen Preis hat
der selige Alojzije Stepinac dafür gezahlt, weil er der Einheit der
Kirche treu blieb.
Maria 1.0: In Deutschland befasst sich der „Synodale Weg“ mit Fragen wie
dem Priesteramt für Frauen oder der Abschaffung des Pflichtzölibats.
Bewegen diese Fragen auch die Katholiken in Sarajevo?
Kardinal Puljić: Eine Kirche, die die Herausforderung des Kommunismus überstanden
hat, hat keine solchen exotischen Ideen. In der Tat beleidigen und
erstaunen solche Einstellungen unsere Gläubigen. Wir können eine
Kirche nicht verstehen, in der das Opfer zu einem Fremdwort wird und
es einen Jesus ohne Kreuz gibt. Es kann über alle Themen
Diskussionen geben, allerdings auf Grundlage des Evangeliums und
nicht basierend auf Säkularismus und Relativismus. Die religiöse
Beliebigkeit hat es sich im Leben der Kirche bequem gemacht, aber wir
müssen zum ursprünglichen Evangelium zurückkehren.
Maria 1.0: Die Auseinandersetzung zwischen den deutschen Ortskirchen und dem
Vatikan über die Formulierung der Lehre wird in der Öffentlichkeit
als Streit empfunden. Viele Katholiken sorgen sich vor einer
Kirchenspaltung. Sie selbst waren auch mal Vorsitzender einer
Bischofskonferenz. Was würden Sie Ihren deutschen Mitbrüdern
empfehlen?
Kardinal Puljić: Es bleibt mir nur zum Heiligen Geist zu beten, damit er jeden
persönlich und alle zusammen erleuchtet, insbesondere diejenigen,
die die Kirche in Deutschland führen. Möge das Göttliche an erster
Stelle sein. Ich würde mich nicht als Richter ausgeben, aber ich
kann solche Ansichten nicht akzeptieren.
Maria 1.0: Wird sich Papst Franziskus eines Tages noch einmal persönlich ein
Bild machen von der Kirche in Deutschland?
Kardinal Puljić: Was der Papst tun wird, kann ich weder vorhersehen noch beeinflussen.
Falls er mich nach meiner Meinung fragen sollte, werde ich ihm
deutlich die Meinung der leidenden Kirche vor Augen führen.
Maria 1.0: Eminenz, Sie sind Mitglied der Kongregation für die
Evangelisierung der Völker. Bedarf es in Europa einer
Neuevangelisierung oder ist nicht längst Mission gefordert,
angesichts des umgreifenden Atheismus?
Kardinal Puljić: Aufgrund meines Gesundheitszustands nehme ich nicht mehr an
Kongregationen teil. Ich habe mich sowohl dieser Ortskirche als auch
der Kirche in Bosnien und Herzegowina gewidmet. Gleichzeitig geht
meine Amtszeit langsam zu Ende und ich hoffe, dass ich dem wahren
Glauben treu bleiben werde, den ich seit über 75 Jahren lebe.
Maria 1.0: Der Heilige Vater hat ein Jahr des heiligen Josef ausgerufen. Was
bedeutet Ihnen der heilige Josef?
Kardinal Puljić: In dieser Krise der Familien, insbesondere der Krise der Vaterschaft,
ist das Jahr des heiligen Josefs ein wunderbarer Anreiz dafür, die
Würde der Vaterschaft innerhalb der Familie und der Gesellschaft
wiederherzustellen. Insbesondere soll sich jedes Elternteil des
Vertrauens würdig erweisen, das Gott ihm gibt, solange er diese Erde
bereist.
Maria 1.0: Vielen Dank für das Gespräch.
Kardinal Puljić: Vielen Dank für Ihr Vertrauen.